50 shades of white – Leere, Potenzial, Empfänglichkeit

09. Dezember 2025 | 0 Kommentare

»Je enger unsere Beziehung zu Weiß wird, desto leuchtender wird unsere Welt und desto intensiver werden die Schatten« (FAZ)

‘Kerze‘, Gerhard Richter (1982)

Die Farbe Weiß ist kein Nichts- sie ist ein ‚Noch-nicht‘.

Wenn wir unsere Prozesse in der Kunsttherapie vor einem weißen Stück Papier oder Stoff beginnen, ist alles angelegt, aber noch nichts festgelegt. Das Weiß des Untergrunds kann einladend aber auch überfordernd wirken- Größe, Tagesform, Thema – es gibt viele Faktoren, die Einfluss auf den Prozess und das Ergebnis haben.

Weiß als Ausgangsfarbe entzieht sich zunächst einer eindeutigen Zuschreibung und eröffnet somit einen breitgefächerten Resonanzraum.

Schon eine kleine Nuance – ein Hauch von Wärme oder Kühle – verändert unseren Zugang und das Gefühl, das sich einstellt: Wir spüren Leere oder Offenheit, Zurückhaltung oder Empfänglichkeit.

Die Farbpalette Weiß weist erstaunlich umfangreiche Nuancierungen auf:

Von Alabasterweiß, Ecru, Elfenbein über Mondweiß, Eierschale und Silberweiß bis hin zu Opalweiß, Blanc de Troyes und Leinenweiß- jeder Weißton beinhaltet einen Hauch von Blau, Rot, Gelb oder Grün, eine Tendenz, eine richtungsweisende Färbung. 

Der Begriff weiß hat indogermanische Wurzeln und bedeutete ursprünglich nicht farblos, sondern im Gegenteil lichtvoll. 

Er verweist auf etwas Strahlendes, etwas, das Licht zurückwirft. Weiß war daher zunächst weniger eine Farbe als eine Qualität.

Doch wo Licht ist, kann auch Blendung entstehen. Zu viel Helligkeit nimmt uns die Konturen. Dann müssen wir zunächst einmal blinzeln, auf Schattierungen und feine Ränder hoffen, damit ein Bild nach und nach deutlicher wird. Diesen Prozess einzugehen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen, kann sich sehr selbstwirksam und wohltuend anfühlen.

Weiß in der Psychologie

Zu Beginn jedes Farb-Kapitels lasse ich meinen Assoziationen zunächst freien Lauf. Bei der Farbe Weiß (oder der ‚Nicht-Farbe‘, wie Goethe sagen würde) kamen mir spontan folgende Begriffe in den Sinn:

Unschuld – Reinheit – unvoreingenommen – Scheinwerferlicht – Spitzenstoff – Schnee – blass – Verschwinden – Gischt – Perlen 

Aus dieser Gedankenwolke formte sich langsam aber deutlich ein interessantes neues Thema- ‚Der weiße Neid‘. 

In der Psychologie unterscheidet man drei Farben von Neid: grün, schwarz und weiß.

Grüner Neid:

„Ich will das auch.“- Das ist noch harmlos, aber oft schwingt etwas Mangel mit. Wir sehen, was wir selbst nicht haben.

Schwarzer Neid:

„Wenn ich es nicht haben kann, soll es niemand haben.“ – Hier kippt der empfundene Neid ins Destruktive. Der Schmerz darüber, selbst zu kurz zu kommen, wird nach außen projiziert.

Weißer Neid:

„Ich gönne dir das – und merke gleichzeitig, was ich mir selbst wünsche.“


Weißer Neid ist ein konstruktiver innerer Impuls – fast schon ein Kompass. Er zeigt uns, was uns berührt, ohne dass wir anderen etwas neiden müssen. Man könnte sagen: Weißer Neid ist die lichtvolle Variante des Vergleichens. Er ist frei von Bitterkeit und frei von Selbstabwertung. Oft taucht dieser ganz leise auf, so wie auch Schneefall, Je länger mich etwas innerlich bewegt, umso deutlicher zeigt sich dann das dahinterstehende Bedürfnis – so ist es auch bei der Gischt, die laut Wörterbuch als weißer Schaum bezeichnet wird, der auf heftig bewegtem Wasser entsteht.

Weißer Neid wirkt stabilisierend, insbesondere, wenn wir nicht versuchen, das Leben einer anderen Person zu kopieren, sondern das Prinzip dahinter erkennen und dieses in unserer eigenen Handschrift individuell transformieren.

Diese positive Form des ‚Abgleichens‘ kann ein achtsamer Motor sein, der inspiriert und antreibt, mit persönlicher Entwicklung und Wachstum voranzukommen.

Weiß im Kontext Empfängnis und Geburt

‘Mutter‘, J. Sorolla (1895-1900)

In Bezug auf Entwicklung und Wachstum muss ich an dieser Stelle unweigerlich an meinen Präventions-Kurs ‚Farbschattierungen in der Schwangerschaft‘ denken:

Ich durfte in diesem Jahr so einige werdende Mütter bei ihrer Entwicklung und ihrem Wachstum (in alle Richtungen) begleiten… Im Fokus standen immer die Bedürfnisse und Themen der Schwangeren und nicht so sehr, die der Feten. 

In Bezug auf die Farbe Weiß kreisen meine Gedanken in diesem Zusammenhang jedoch primär um die ungeboren Kinder: 

Die weiße Käseschmiere, Vernix caseosa, ist ein stilles, fast übersehendes Wunder bei Neugeborenen und das, obwohl sie ein tiefes Symbol trägt und zugleich ausgesprochen sinnvoll ist.

Die Vernix caseosa besteht aus Wasser, Lipiden und abgeschilferten (abgestorbenen) Hautzellen. Sie bildet sich im letzten Drittel der Schwangerschaft und umhüllt das Kind wie eine zarte, wachsige Schutzschicht. Vorrangig verhindert sie, dass die Haut des Babys aufquillt, sie ist also eine natürliche Barriere. 

Zur Geburt hilft die Käseschmiere dem Baby, das Passage-Erlebnis ein wenig geschmeidiger zu durchleben.

Da die Vernix caseosa antibakteriell, feuchtigkeitsspendend und temperaturregulierend wirkt, erweist sie sich in den ersten Stunden nach der Geburt ebenfalls als äußerst hilfreich.

Sie ist sozusagen ein Ur-Schutz, ein körpergewordener Hinweis darauf, dass wir mit einer Grundausstattung an Halt und Geborgenheit zur Welt kommen. 

Ebenfalls ist sie eine Übergangsschicht, die den Moment zwischen zwei Welten- der warmen Innen- und der hellen Außenwelt markiert.

Und zuletzt ist sie zu Beginn unseres irdischen Lebens eine zarte Linie zwischen Ich und Welt, noch bevor Sprache und Erwartungen einsetzen…

‚Weißes Quadrat auf weißem Grund‘, Kasimir Malewitsch (1918)

Erweiterte Welten und weiße Löcher

Zum Abschluss noch ein kleines Gedankenexperiment aus der Astronomie:
Ein weißes Loch ist das theoretische Gegenstück zum schwarzen. Während ein schwarzes Loch alles verschluckt, was sich ihm nähert – Licht, Materie, Gewissheiten – macht ein weißes Loch genau das Gegenteil: Es lässt nichts hinein, gibt aber permanent etwas ab. Man hat zwar bisher noch kein weißes Loch im Universum entdeckt, aber das Bild ist verständlich: ein Ort, der nichts an sich reißt, sondern konsequent nach außen strömt. 

Man könnte sagen:
Das schwarze Loch sammelt, das weiße Loch teilt – das eine zieht zusammen, das andere setzt frei.

Genau hier schließt sich die Brücke zur Kunsttherapie an:
Viele Prozesse beginnen verdichtet — ein Thema, eine Stimmung, ein Knoten. Wir nehmen die innere „Schwerkraft“ wahr, die an etwas festhält. Doch in dem Moment, in dem ein erster Strich, eine Form, eine Farbe auf dem weißen Papier auftaucht, entsteht eine gegenläufige Bewegung: etwas löst sich, zeigt sich, tritt hervor. Dieser Übergang vom Halten zum Freigeben erinnert an das Prinzip des weißen Lochs: Ein Impuls, der aus dem Inneren in die Welt tritt, ohne dass etwas weggenommen wird.

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